Bücherschau

Simon, Cordula - Die Wölfe von Pripyat

Roman
Mit einer Urgewalt an Worten versetzt uns die Autorin in eine völlig diffuse Weltordnung. In dieser ist fast jeder „gecrispert“ (CRISPR – eine Methode zur Erzeugung gentechnisch veränderter Organismen) und „geloggt“. Dieser „Log“ ist ein Chip unter der Haut, der ununterbrochen auf neue Entscheidungs- und Zugriffsrechte drängt! Also kurz und gut, die Menschen dieser neuen Weltordnung werden ferngesteuert. Das Kuriosum: Dieser besagte „Log“, dem man die gesamte Kontrolle über das eigene Leben übergibt, wird zum unersetzlichen personalisierten Lebenspartner. Dämmert es schon, wohin die erzählerische Reise geht? 
Vorerst führt sie uns im erzählerischen Präsens in das „Jahr 1016 des Konsuls“. Zeitweise lässt sich dabei ein spärlicher Handlungsstrang erkennen. Es geht um eine Gruppe von Menschen, die aus einem Umerziehungslager ausbricht. Das herrschende Regime hat sie dorthin wegen des Verdachts der Aufsässigkeit und Unzuverlässigkeit deportiert. Sie machen sich „Richtung Osten auf“ und begeben sich auf die gefahrvolle Suche nach der „Goldenen Stadt“ und der „Gelehrtenrepublik“, wo „Freies Denken“ noch möglich ist. 
Und die Wölfe von Pripyat? (Prypjat – eine Geisterstadt, die mit dem Reaktorunglück im Kernkraftwerk Tschernobyl eng verbunden ist.) Von ihnen erfährt man aus Erzählungen der „Tante Brause“. Sie, die Frau des „Wettermoderators“, erzählt gerne den Kindern Märchen: „Es war vor tausenden Jahren um Viertel nach drei, da lebten unter lachendem Himmel Wölfe im verzauberten Walde Pripyats“. Die Märchen dieser „Tante Brause“ stellen sich alsbald als bedrückende und bewusst manipulativ eingesetzte Albträume dar. Dieser Roman ist wahrlich eine beklemmende Lektüre. Vor allem ab diesem Moment, wo einem die absolute Zeitnähe und Aktualität voll bewusst wird. Eine Lektüre heutiger Lesart und Lebensart! 
Adalbert Melichar
 
Simon, Cordula - Die Wölfe von Pripyat
Roman. Salzburg: Residenz 2022. 395 S. - fest geb. : € 25,00 (DR)
ISBN 978-3-7017-1750-7
 
 

 

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