Bücherschau

Carrère, Emmanuel - Yoga

Vermessung des eigenen Egos
Ohne Handy und mit dem Vorhaben, Stoff für „ein heiteres und feinsinniges Büchlein über Yoga“ zu sammeln, genießt der Emmanuel Carrère eine angenehme Phase seines Lebens. Er liebäugelt in ausschweifenden Introspektionen mit der Vorstellung, ein weiser Mann zu werden, der sohin geduldig „auf einen Zustand der Gelassenheit und des Staunens“ hinwirkt. Er möchte die Themen „Yoga“ und die Kunst der Meditation literarisch auf seine Weise bearbeiten. 
So beginnt er also mit einem der ersten Tage im Januar 2015, an dem er sich zu seinem zehntägigen Vipassana–Kurs aufs Land begibt, nach Morvan, eineinhalb Stunden Zugfahrt von Paris entfernt. Das alles erzählt Carrère so, wie man es von ihm kennt: autobiografisch, autofiktional, aus der Perspektive des eigenen Ichs, das all das gerade erlebt und versucht, sich zu dem Stoff, den es gerade bearbeitet, in ein Verhältnis zu setzen. Der Ich-Erzähler (in diesem Fall darf man getrost sagen: Emmanuel Carrère) schildert die Atmosphäre in diesem Sinnsucher-Camp, aus dem die Alltagswelt in Form von Fernsehen oder Smartphone komplett ausgesperrt ist, mit amüsierter Respektlosigkeit. Er macht sich lustig sich über Bäumeumarmer und „Bartundsandalentragendevegetarieryogis“, vor allem aber über sich selbst, den alternden Schriftsteller in einer Lebenskrise. Heiter und sachkundig will er seine Erkenntnisse über die „inneren Kampfkünste“ darlegen, die er er seit langem praktiziert. 
Doch dann wird er plötzlich eingeholt: Die „Charlie Hebdo“-Attentate zwingen ihn zur Abreise, weil er die Grabrede auf seinen ermordeten Freund Bernard Maris halten muss. Die Krise mündet in einen psychischen Zusammenbruch. Er durchlebt eine Depression, die zu einem viermonatigen Aufenthalt in der Psychiatrie führt. Man diagnostiziert bei ihm Tachypsychie („etwas wie Herzrasen, nur für geistige Aktivitäten“) als Teil einer Bipolar-II-Störung. Wegen der Suizidwünsche durchläuft er eine Elektrokonvulsionstherapie. Teil vier und fünf berichten schließlich vom schweren Neuanfang: Der Erzähler hilft auf der griechischen Insel Leros dabei, Flüchtlingsjungen zu unterrichten. Abschließend berichtet Carrère von den letzten Kontakten mit seinem langjährigen, nun verstorbenen Verleger und der Niederschrift des Romans, die nach mehreren Anläufen endlich gelingt. 
Emmanuel Carrère ist ein extrem genauer Beobachter. Und auch wenn er vorwiegend über seine psychische Labilität schreibt, ist seine Sprache nicht im Geringsten wehleidig. Er reichert das Nachdenken über sich selbst an mit Anmerkungen über Kunst, Wissenschaft und Philosophie.
Nietzsche und Schopenhauer, Montaigne, Flaubert und Roland Barthes, van Gogh und Stephen Hawking schwirren mitunter durch den Text. „Yoga“ ist sein bislang persönlichster Text. Er ist abgründig, aber nicht finster, vielmehr oft zum Lachen. Und Claudia Hamm hat als kongeniale Übersetzerin den selbstironischen Ton dieses großartigen Stilisten im Deutschen wunderbar nachvollziehbar gemacht. „Yoga“ ist ein berührender, frischer, mitreißender Text dieses Meisters der Vermessung des eigenen Egos. 
Martin Wasser
 
Carrère, Emmanuel  - Yoga
Roman. Berlin: Matthes & Seitz 2022. 341 S. - fest geb. : € 25,70 (DR)
ISBN 978-3-7518-0058-7
Aus dem Franz. von Claudia Hamm
 
 


 

 

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