Weil, Grete - Der Weg zur Grenze
Autobiografischer Roman einer Untergetauchten
"Der Weg zur Grenze" ist der erste Roman von Grete Weil, geschrieben im Exil 1944/45 im Amsterdamer Versteck und erst jetzt zum ersten Mal veröffentlicht. Grete Weil schrieb ihren autobiografischen Roman hoch oben auf dem Dachboden eines Hauses in Amsterdam, in dem sie untergetaucht ist. Sie lebt und schreibt im Verborgenen, in der Illegalität. Nachts schläft sie hinter einer Bücherwand, um sich vor überraschenden Durchsuchungen zu verstecken. Es ist ihre eigene Liebesgeschichte, fiktionalisiert und im Roman aus dem Autobiographischen ins Exemplarische gehoben. Ihr Mann Edgar Weil wurde im Juni 1941 bei einer Razzia auf offener Straße verhaftet und wenig später im KZ Mauthausen ermordet.
Im Roman macht sich die junge Jüdin Monika Merton aus München, deren Mann bereits im KZ Dachau getötet worden ist und die inzwischen auch von der Gestapo gesucht wird, im Jahre 1936 zuletzt zu Fuß und auf Skiern auf den Weg über die Grenze nach Österreich. Durch Zufall begleitet sie auf ihrer Flucht über die winterlichen Berge einem jungen Bekannten, dem gänzlich unpolitischen Lyriker Andreas von Cornides. In nächtlichen Gesprächen in der Berghütte erzählt sie ihm Szenen ihres Lebens in München und im Berlin Anfang der Dreißigerjahre. Und von ihrer Liebe zu ihrem Cousin Klaus, der Ehe, von Reisen und Krisen und der Arbeit an einer alternativen Schule am Land in Bayern, bis die Machtergreifung der Nazis und der zunehmende Antisemitismus all dem ein Ende setzt.
Und sie versucht, dem jungen Mann ihre Beweggründe begreiflich zu machen, das Land der Nazis zu verlassen. Sie kann, nachdem sie ihren Mann verloren hat, die politische und soziale Ungerechtigkeit nicht mehr hinnehmen. Allerdings, so erklärt sie, sind sie selbst auch nicht schuldlos: „Wir haben mit in den Schoß gelegten Händen zugesehen, wie die Dämonen über unser Land gekommen sind.“ Es ist eine bewegende Abrechnung mit ihrer Herkunft und ihren intellektuellen Prägungen in der Zeit der Weimarer Republik geworden. Ihr kritischer Blick macht auch vor dem eigenen Zögern nicht Halt, sich rechtzeitig politisch zu bekennen.
Es ist eine packende Fluchtgeschichte, eine großartige Beschreibung der Veränderungen im Alltag, in den Familien und Institutionen seit der Machtergreifung der Nazis 1933 und zugleich die Geschichte der Politisierung in einem gebildeten, bürgerlichen und eher politikfernen Umfeld. Ein großes Leseerlebnis, ein wichtiges Buch.
Brigitte Winter
Weil, Grete - Der Weg zur Grenze
Roman. München: Beck 2022. 384 S. - fest geb. : 25,70 (DR)
ISBN 978-3-406-79106-2