Bücherschau

Penslar, Derek - Theodor Herzl

Staatsmann ohne Staat
Das Leben von Theodor Herzl währte nur 44 Jahre lang, doch so kurz es war, so erstaunlich einflussreich ist er gewesen. Wie wurde aus diesem Kosmopoliten und assimilierten europäischen Juden der Anführer der zionistischen Bewegung? Wie konnte er gleichzeitig Künstler und Staatsmann, Rationalist und Ästhet, strenger Moralist und doch von tiefen Leidenschaften besessen sein? Und warum begrüßten Zigtausende von Juden, darunter unzählige mit einem traditionellen, frommen Hintergrund, Theodor Herzl als ihren Führer? Auf all diesen Fragen versucht Derek Penslar, Professor für Jüdische Geschichte an der Harvard-Universität, in seinem Buch Antworten zu geben. 
Diese Biografie konzentriert sich neben den wichtigen Lebensstationen auf drei miteinander verflochtene Themen: Theodor Herzls Innenleben, seine Beziehung zur zionistischen Bewegung und seine Stellung in der Welt als professioneller Reporter und amateurhafter Staatsmann. Beeindruckend, wie Penslar, anders als alle bisherigen Biografen, Herzls psychische Instabilität untersucht. Distanziert und zurückhaltend, wie er war, hatte Herzl nur wenige Freunde und führte keine „gesunde“ Liebesbeziehung. Seine Ehe war beklagenswert, als Vater war er stets abwesend und alle drei Kinder litten an psychischen Störungen. Penslar zeigt nun, wie Herzl durch seine Aktionen immer wieder herausfand aus seinen dunklen Phasen, wie er vor allem durch das Projekt Zionismus sein Leben wieder mit Sinne erfüllen konnte und von einer erstaunlichen Arbeitsmoral getrieben enorme Energien in seine Aktivitäten einfließen lassen konnte, die ihn jedoch auch psychisch erschöpften und zu seinem frühen Tod beitrugen. 
Penslar zeigt zudem auf und argumentiert schlüssig, dass Theodor Herzl, der perfekt in das Schema eines charismatischen Führers passt, zur richtigen Zeit der Richtige war, um der frühen zionistischen Bewegung, die klein, schwach und verstreut war und über keinerlei strukturelle Schirmherrschaft oder Sanktionsmöglichkeiten verfügte, Hoffnung anzubieten. Dazu half ihm auch sein Talent zur Selbstinszenierung. Seine provokativen und bisweilen empörenden politischen Reden und Aktionen waren sorgfältig inszeniert. 
Mittels umfangreicher privater, literarischer und politischer Schriften zeigt Derek Penslar, dass Herzls bemerkenswerter Weg zum Zionismus nicht nur vom grassierenden Antisemitismus angetrieben wurde, sondern sich auch aus persönlichen Krisen erklärt. Und einmal dem Zionismus verschrieben, zeigte er sich als geschickter Organisator, voll unermüdlicher Energie und mitreißendem Charisma. Und so wurde er zu einer Art Projektionsfläche für viele Juden seiner Zeit, für ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte. Und eine ihrer großen Führungspersönlichkeiten. Eine sehr gut lesbare und informative Biografie. 
Robert Leiner
 
Penslar, Derek - Theodor Herzl
Staatsmann ohne Staat. Göttingen: Wallstein 2022. 256 S. : Ill. - fest geb. : € 24,70 (BI)
ISBN 978-3-8353-5204-9
 


 

 

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