Bücherschau

Hanuschek, Sven - Arno Schmidt

Biografie
Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod ist Arno Schmidt, nicht nur dem Namen nach, kein Geheimtipp mehr, er muss uns mit seinem Werk als Klassiker der literarischen Moderne gelten. Für diese Einschätzung sprechen nicht nur die auflagenstarken Editionen seiner Werke und die ständig wachsende Fachliteratur, sondern auch die Publikationen der letzten Jahre, also Sonderausgaben ausgewählter Prosatexte, kommentierte Bildbiografien, Kataloge über Archivbestände und unvollständige Werke, Editionen von Briefen oder Tagebüchern seiner Frau Alice – hin bis zur phänomenalen Comic-Adaption von „Schwarze Spiegel“ durch den österreichischen Künstler Nicolas Mahler. Schmidt ist in aller Bücherregale – und für die erste große Biografie dieses Autors muss, das soll gleich vorausgeschickt werden, ebenfalls ein angemessener Platz gefunden werden. 
Die umfängliche und überaus lesbare Studie des Literaturwissenschaftlers Sven Hanuschek schafft es, das Bild vom schwer zugänglichen Einsiedler in der Lüneburger Heide, vom Bibliomanen mit deutlichen Vorlieben für Romantik, Natur und freizügigen Darstellungen, also einem Bild, an dem Schmidt selbst auch nicht ganz unschuldig war, aufzubrechen. Hanuscheks erklärte Zielsetzung ist es, einen „roten Faden“ durch Werk und Leben nachzuzeichnen und die bisherige Einordnung des experimentellen Erzählers Schmidt nicht zuletzt in der Literaturgeschichte, die er als „in Teilen für falsch, vor allem für unnötig abwehrend“ einschätzt, zu korrigieren. Es geht also um nichts weniger als um Gerechtigkeit für Arno Schmidt – ein großer und auch eingelöster Selbstanspruch, nicht zuletzt, weil die vorliegende Biografie durch ihre mitvermittelten Kontextualisierungen und kurzweiligen Interpretationen eine größere Perspektive auf die deutschsprachige Literatur nach 1945 eröffnet. 
Eben durch die Einbeziehung historischer und gesellschaftlicher Umfelder wird Schmidt in seiner Bedeutung und Verflechtung erfahrbar, etwa in seinem durchaus facetten- und friktionsreichen Einfluss auf Zeitgenossen und spätere Generationen. Wenn Hanuschek also Leben und Werk Schmidts – durchbrochen von erläuternden Einschüben oder auch ganz Kapiteln zum Frauenbild oder auch dem Verhältnis zur (nicht nur männlichen) Leserschaft – entfaltet, macht er ihn als zeitgemäßen und eben auch zeitgenössischen Autor neu erfahrbar. Durchaus im Bewusstsein für die Problematiken (oder auch: Unmöglichkeit) von biografischer Vollständigkeit und Linearität bietet er eine Form von Vermessung und Kartierung von Schmidt, was angesichts eines Autors, der sich mit all seinen naturwissenschaftlichen Vorliegen, als Kartenmacher gesehen und bezeichnet hat, durchaus stimmig ist. 
Die von Hanuschek berücksichtigte, breite Quellenlage führt zu einer Fülle an Informationen die er in eine lesbare, nicht nur für Schmidt-Fans ansprechende Form überführt – inklusive Seitenhiebe auf aktuelle Unterhaltungsliteratur und Hinweise auf österreichische Gegenwartsliteratur. Der Umfang von nahezu tausend Seiten mag da im ersten Moment einen Mangel an Diskursökonomie vermuten lassen oder gar abschreckend wirken, doch das Gegenteil ist der Fall. Auch angesichts von Schmidts Bedeutung, der sich Hanuscheks Biografie durchaus kritisch verschreibt, ist die Länge absolut gerechtfertigt – und im Verlauf der Lektüre, die auch zum Nachblättern bei Schmidt anregt, entsteht der Eindruck, hier wäre noch Stoff für tausend weitere Seiten gewesen. In der Auseinandersetzung mit Schmidt, seiner nach und nach ausgebildeten, unverwechselbaren Formensprache und einer im Lesen begründeten Schreibbewegung, kommt Hanuschek zu einer Vielzahl spannender wie auch überzeugender Gedanken, die mit einigen Klischees und Vorurteilen aufräumen. Hanuschek erkennt in Schmidt einen eigensinnigen, ja aggressiven Romantiker, der ebendiese Epoche in ihrer Gefährlichkeit für sich nutzbar gemacht hat: In ihrer Anlage liegt auch das Potenzial eines auf die Kunst ausgerichteten Lebens, das aus diesem ausgeblendeten, ja unterschlagenen Erbteil Formen von Kritik und Widerständig gewinnt. Schmidt avantgardistische Neuerfindung der Moderne aus diesem Geist ist dabei aber keineswegs so elitär, wie es seinen Selbstinszenierung mitunter hat vermuten lassen und eben so wenig ist dieses Schreibprogramm eine Form von Selbstverwirklichung. 
Schmidts Schreiben steht und entsteht vielmehr, so analysiert Hanuschek Werk für Werk, unter einem massiven Druck, einer geradezu manischen Haltung, die nicht nur langen Jahrzehnten prekärer Verhältnisse geschuldet ist, sondern auch dem Abarbeiten an individuellen und übergeordneten Traumata. Geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und in klarem Widerspruch zu Wiederaufrüstung und Militarismus wird die Durchlässigkeit von Wirklichkeit und Fiktion, durchzogen von Tendenzen zu Gnostik und Untergangsphantasien, zu einer zentralen Achse in Schmidts Gesamtwerk. Dabei sieht sich Schmidt in seinem Selbstverständnis als realistischer Autor, der, geleitet von Lesearbeit und Recherche, schlicht mit einem breiteren literarischen Instrumentarium operiert als seine Zeitgenossen. Referenzen werden bei ihm nicht zur Eröffnung literarischer Welten Dritter eingeflochten, sondern sind Ausdruck seiner Poetik, die in letzter Konsequenz auf die Wirklichkeit einwirken will – aber eben aus dem Gestus des Beobachtens und Darstellens. Es ist deshalb nur konsequent, dass es in Schmidts Werken unter den mitunter sehr beschaulichen Oberflächen ganz gewaltig rumort und seine Radikalität, sei es in der Sprache oder in der Verhandlung von Sexualität, nicht nur freundliche Aufnahme findet oder gar Gegenstand von Klagen wird. 
Dass Schmidt, in seiner auf die Literatur und vor allem auch das eigene Werk ausgerichteten Existenz, sich auch selbst immer wieder mit viel Selbstironie hineinverwebt, ist dabei nur stimmig. Dieser Gedanke steht durchaus im Einklang mit Hanuscheks Überlegungen, dass Ehefrau Alice, die „gewissermaßen das Büro der Firma Schmidt“ führt, in aller Eigenständigkeit wohl wesentlich dafür war, dass Schmidt nicht nur ein interessanter Leser, sondern auch ein ebensolcher Autor wird. 
Thomas Ballhausen
 
Hanuschek, Sven - Arno Schmidt
Biografie. München: Hanser 2022. 990 S. : zahlr. Ill. - fest geb. : € 46,30 (BI)
ISBN 978-3-446-27098-5
 


 

 

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