Rathkolb, Oliver - Schirach
Eine Generation zwischen Goethe und Hitler
Baldur von Schirach war eine der schillerndsten Figuren der NS-Politik. Nach kometenhaftem Aufstieg noch zu Zeiten der Weimarer Republik galt der Chef der Parteijugend zeitweilig als Hitlers Kronprinz. Der Spross aus Weimarischem Beamtenadel und einer Pflanzer-Aristokratie war ein Drei-Viertel-Amerikaner der Oberschicht (Spitzname: „Baron“). Wer Lust hat, kann im Internet noch heute sein gepflegtes Englisch im Gespräch mit dem britischen Starjournalisten David Frost bewundern.
Schirach geriet allerdings immer häufiger in Widerspruch zu den extrem konservativen kulturpolitischen Auffassungen Hitlers. Seine Berufung als Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien ab 1940 galt daher bereits als Abschiebung. Der Karrierist rührte zwar keinen Finger zu Gunsten der bedrohten Wiener Juden, gewährte aber der „Wiener Kultur“ gewisse Freiheiten. Dies hatte zur paradoxen Folge, dass Kommunisten, Konservative und Monarchisten etwa gleichzeitig an „austriakischen“ Ideologien bastelten. Schirachs Beitrag zur Ausprägung einer eigenständigen österreichischen kulturellen Identität entspricht in etwa der Förderung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des Landes durch die Industrialisierungsinitiativen des „Dritten Reichs“.
Rathkolbs solide gearbeitete, umfassende, reich bebilderte Biografie ist zeitgeschichtlich interessierten Lesern unbedingt zu empfehlen-
Robert Schediwy
Rathkolb, Oliver - Schirach
Eine Generation zwischen Goethe und Hitler. Wien: Molden 2020. 352 S. : zahlr. Ill. - fest geb. : € 32,00 (BI)
ISBN 978-3-222-15058-6